01.02.2013 | Hans Wirsching (…)
Stadtamtmann Hans Wirsching
Am 01.02.2013 referierte Glockenwirt Karl Thürauf im Rahmen der winterlichen Vortragsreihe des Vereins Alt-Rothenburg in der gut besuchten „Kelter“ seines Gastshofs über Hans Wirsching, der fast ein halbes Jahrhundert lang in Diensten der Stadt Rothenburg stand und sich in unglaublich vielen Bereichen um die Stadt verdient gemacht hat.
Wirsching wurde 1877 in der Dorfmühle im unterfränkischen Iffigheim bei Marktbreit geboren. (heute Gemeinde Markt Seinsheim) Schon bald konnte der Vater die Mühle nicht mehr halten, für den Jungen begann eine schwere, von Armut und verschiedenen Umzügen bis in die Gegend um Regensburg und in den Steigerwald geprägte Jugend. Der eher kleinwüchsige, zierliche, durch schwere körperliche Arbeit bereits gesundheitlich geschädigte Sechzehnjährige kam schließlich bei der Stadtverwaltung in Ochsenfurt unter, absolvierte die Verwaltungsprüfung als bester unterfränkischer Bewerber und amtierte ein Dreiveierteljahr als Stadtschreiber in Marktsteft, bevor er sich 1899 bei der Stadt Rothenburg bewarb. Seit 1900 war er in verschiedenen Funktionen – am Anfang als „Zweiter Polizeioffiziant“ und am Ende als Leiter der Stadtverwaltung – tätig und erwarb sich den Ruf eines fleißigen, überaus engagierten und für alle, insbesondere für die „kleinen Leute“ zu sprechenden Beamten, der offenbar auch durch eine Neuorganisation die Stadtverwaltung offener und bürgerfreundlicher gestaltete.
Neben seiner beuflichen Tätigkeit war er in zahlreichen Vereinen und Vereinigungen tätig, die er zum Teil in Rothenburg mitbegründete und für die er auch überregional Führungsaufgaben übernahm: Verein Alt-Rothenburg: Förderung des Fremdenverkehrs – die Wurzel des heutigen Verkehrsvereins; Freiwillige Feuerwehr – zeitweise war er Kreisbrandinspektor; „Sanitätskolonne“, später Rotes Kreuz – in dieser Tätigkeit nahm er am 1. Weltkrieg im Fronteinsatz teil und war im 2. Weltkrieg maßgeblich an der Organisation des umfänglichen Lazarettbetriebs in Rothenburg tätig. (Ersatzlazarette im Wildbad, im Spital, in verschiedenen Hotels usw.); Festspiel „Der Meistertrunk“: Auf Wirsching geht die Gruppe der „Schanzbauern“ zurück, lange Jahre war er Souffleur. Auf seine Initiative hin wurde das Volksbad (Brausebad) am Schrannenplatz eingerichtet. Er beteiligte sich an der Gründung eines Ziegenzuchtvereins – was für ärmere Leute im 2. Weltkrieg durchaus von Bedeutung werden sollte, denn für Ziegenmilch bestand keine Erfassungs- und Ablieferungspflicht. Auf seine Initiative gingen der Gemeindebeamtenverein und der Kleinrentnerverein zurück. Nach 1945 sorgte er für Volksküchen und Wärmestuben. Das enorme bürgerliche und soziale Engagement Wirschings wurde ergänzt durch seine kommunalpolitische Tätigkeit: Er trat für das Frauenwahlrecht ein, war – gegen den Willen seines Dienstvorgesetzten Ludwig Siebert – Mitglied des Stadtrats („Gemeindekollegium“) und sorgte für den Zusammenschluss des eher unpolitischen „Bürgervereins“ und der „Freien Vereinigung“. Sein politischer Standort war offensichtlich liberal-konservativ. Der ehemalige Rothenburger Bürgermeister und spätere NS-Ministerpräsident Ludwig Siebert schätzte ihn sehr, wollte ihn zur Mitgliedschaft in der NSDAP bewegen und versprach ihm eine glänzende Karriere. Wirsching lehnte ab.
Ein Nationalsozialist war er zweifelsohne nicht, aber auch keiner, der sich aus Angst um seine Karriere mit den Nazis gemein gemacht hat. Nach der „Machtergreifung“ zogen junge Nazis vor sein Haus und riefen „Deutschnationaler Lump, … ins Zuchthaus gehört er.“ Es gab Bestrebungen, ihn aus seinem Amt zu entlassen und damit seine bürgerliche Existenz zu vernichten. Aber offenbar war er als Verwaltungsfachmann unentbehrlich und durch seine Popularität geschützt, so dass ihm ein schärferes Vorgehen der Nazis erspart blieb.
Gegen Ende des Kriges, als die Front immer näher rückte, versuchte Wirsching, Rothenburg zur Lazarettstadt erklären zu lassen, was vom fanatischen Kreisleiter Höllfritsch verhindert wurde. Interessante Details aus Karl Thüraufs persönlichem Erleben des folgenreichen Luftangriffs vom 31. März 1945 ergänzten das bisher Bekannte. Nach seiner Erinnerung und seinen Nachforschungen waren damals die beiden für die Luftabwehr gedachten MG-Stellungen unbesetzt, es fiel kein Schuss von deutscher Seite, als die amerikanischen Flieger das Verderben brachten.
Gut 14 Tage später standen die Amerikaner vor der Stadt. Was in den dramatischen Tagen des 15. – 17. April genau geschah, soll an anderer Stelle in aller Ausführlichkeit dargelegt werden. Die unsinnige Sprengung der Taubertalbrücken und die Anlage von Panzersperren beweisen, dass durchaus geplant war, die Stadt „bis zum letzten Blutstropfen“ zu verteidigen. Fest steht, dass Hans Wirsching durch seine Verhandlungen mit den deutschen Militärs und durch Kontaktaufnahme mit den Amerikanern erreichte, dass die deutschen Einheiten ihre um die Stadt postierten Flakeinheiten abzogen und auf der Frankenhöhe eine neue Verteidigungsstellung aufbauten – mit entsprechend katastrophalen Folgen etwa für Linden und Obernordenberg. Ähnlich wie in anderen Orten hätte die Anwesenheit von deutschen Truppen für Rothenburg starken Beschuss durch Artillerie und Panzer bedeuten können – und damit wahrscheinlich die Zerstörung der beim Luftangriff verschonten Stadtviertel. Ebenso musste man im Falle, dass wieder deutsches Militär in die Stadt kommen würde, mit Repressalien und Vergeltungsmaßnahmen rechnen. Man denke nur an Brettheim oder an Bad Windsheim, wo die mutige Fabrikantengattin Schmotzer, eine junge Mutter, von der Gestapo ermordet wurde, weil sie mit einer weißen Fahne gesehen und verraten wurde.
Nachdem die Amerikaner die Stadt übernommen hatten, wurde Hans Wirsching vom Militärgouverneur Bull zum Bürgermeister erklärt, während alle NS-Mitglieder aus ihren Ämtern entfernt wurden. Kurz darauf wurde er auch zum Landrat ernannt und besetzte die Bürgermeisterposten in den Gemeinden neu. (Bei der ersten Kommunalwahl nach dem Krieg wurden die von ihm Vorgeschlagenen von den Wählern in ihrem Amt bestätigt, er hatte also die richtigen Leute ausgesucht.) Auf seinen Vorschlag hin wurde der Sozialdemokrat Friedrich Hörner Bürgermeister von Rothenburg. Wirschings Wirken wurde von Bull als „vorbildlich“ bezeichnet, der ihn allerdings auch warnte, er habe Neider und Feinde in der Stadt.
Nachfolger Bulls wurde Major Anderson, der offenbar aufgrund von Denunziationen Wirsching als Landrat entließ. Der Achtundsechzigjährige kehrte daraufhin in sein altes Amt als Stadtamtmann zurück, musste aber im November 1945 auf Anweisung Andersons das Rathaus verlassen. Wirsching war vor 1933 Mitglied der Deutschen Volkspartei (DVP, vor 1918 „Nationalliberale“) gewesen, einer bürgerlich-rechtsliberalen Partei, die sich zu Beginn der Weimarer Republik unter der Führung Gustav Stresemanns zu einer demokratischen Partei entwickelt hatte. Dies war bekannt, dies schadete ihm 1945 in den Augen der Amerikaner nicht. Die innenpolitischen Wirren am Ende der Republik, gekennzeichnet durch den Aufstieg Hitlers, hatten allerdings angesichts des Zusammenschmelzens des bürgerlichen Wählerpotentials zu Wahlbündnissen zwischen der DVP und der konservativ-nationalistischen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) geführt, so dass Wirsching 1930 auf einer Wahlliste der DNVP auftauchte, obwohl er dieser nicht angehörte.
Auf dem Fragebogen, den er wie die meisten für die Amerikaner ausfüllen musste, hatte er diesen an sich belanglosen Sachverhalt verschwiegen bzw. übersehen. Dies wurde ihm zum Verhängnis. Er wurde am 19. 1. 1946 wegen „Fragebogenfälschung“ verhaftet und ins Rothenburger Gefängnis verbracht. Nachdem es zu Protesten aus der Bevölkerung gekommen war, verlegte man ihn für kurze Zeit nach Uffenheim und schließlich am 2. März in das Zuchthaus Amberg. Behandlung und Verpflegung waren dort hart und schlecht, so dass er am 30. Oktober 1946 als körperlich und seelisch gebrochener Mann nach Rothenburg zurückkehrte. Landrat, Bürgermeister, sämtliche Stadtratsfraktionen und die beiden Kirchen hatten sich für ihn eingesetzt. Das Urteil wurde aufgehoben.
„Die Freude über die Rückkehr war riesengroß. Nur einige grüßten mit süßsaurem Gesicht“ schrieb Hans Wirsching in seinen Erinnerungen. Bei dem im Rahmen der Entnazifizierung durchgeführten Spruchkammerverfahren wurde er freigesprochen, so dass er seine Ruhestandsbezüge als Beamter erhalten konnte.
Obwohl die alte Vitalität nicht mehr zurückkehrte, schrieb er zahlreiche Artikel für die „Linde“. Am 18. 1. 1955 wurde er zum Ehrenbürger der Stadt Rothenburg ernannt. Er verstarb am 15. September 1955.
Eine kleine Tafel an der Friedhofskapelle erinnert an ihn. Sein Grab wurde nach Ablauf der Liegezeit beseitigt, sein einfaches Grabkreuz befindet sich heute im Garten eines seiner Urenkel in Murnau.
Eine abschließende Bewertung des Menschen und Verwaltungsbeamten Hans Wirsching steht noch aus. Nach dem Vortrag von Karl Thürauf und aus allem, was wir sonst über den in seinem Auftreten bescheidenen und anspruchslosen „Stadtamtmann“ wissen, muss er aber ein persönlich integrer, ungemein fleißiger, sozial engagierter und fachlich kompetenter Mann gewesen sein, der sich in höchstem Maße um Rothenburg verdient gemacht hat. Seine Arbeit wird unter den Nazis nicht immer leicht gewesen sein; vermutlich hat er manches mittragen müssen, was ihm zuwider war. Den Abzug der deutschen Truppen aus Rothenburg und der unmittelbaren Umgebung hat er höchstwahrscheinlich in eigener Verantwortung und unter Lebensgefahr bewerkstelligt. Heimtückische Denunziation und vollkommen unberechtigte Bestrafung haben ihm seinen Lebensabend vergällt.