16.04.2002 | Die Mediatisierung 1802/03

Karl Borchardt
Die Mediatisierung 1802/03

Vortrag bei der Jahreshauptversammlung Verein Alt-Rothenburg 16.04.2002.

Die Gelegenheit ist günstig, um an ein bevorstehendes Jubiläum zu erinnern: Vor 200 Jahren, im Jahre 1802, wurde die Reichsstadt Rothenburg bayerisch. Ob man den Verlust der Reichsunmittelbarkeit betrauert oder den Übergang an Bayern feiert, mag jeder selbst entscheiden. Unzweifelhaft aber bezeichnet das Jahr 1802 eine der markantesten Zäsuren in der Geschichte Rothenburgs.

Bis 1802 hatte die Stadt sich über ein halbes Jahrtausend lang weitgehend autonom selbst regiert, wenn auch eingebunden in das politische System des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“. Der Rat der Reichsstadt war nicht souverän, sondern der Kaiser war der Stadtherr, doch die Rechte, welche dem Kaiser zustanden, beschränkten sich seit dem 14. Jahrhundert auf Formalien. Die Zusammensetzung des Rates, die Steuern und Abgaben, die Gerichtsbarkeit, die Einnahmen und Ausgaben, die Bauten usw. entschied Rothenburg bis 1802 selbständig. Ab 1802 aber bestimmte die Regierung in München. Fortan unterstand Rothenburg der Landeshoheit des Kurfürsten von Pfalz-Bayern, war Rothenburg eine bayerische Stadt.

Völlig überraschend kam 1802 der Verlust der Reichsunmittelbarkeit nicht. Das Heilige Römische Reich erklärte 1793 Frankreich den Krieg, weil die revolutionäre Regierung in Paris Rechte und Besitzungen von Reichsständen im Elsaß und anderen Grenzgebieten enteignet hatte. Frankreich gewann den Krieg, wobei französische Truppen vorübergehend auch Rothenburg besetzten. Seit den ersten Friedensverhandlungen 1797 war klar und 1801 beim definitiven Friedensschluss wurde endgültig entschieden, dass alle linksrheinischen Reichsgebiete an Frankreich fielen. Weltliche Reichsfürsten, die links des Rheins Territorien verloren, sollten durch Säkularisation geistlicher Fürstentümer und Mediatisierung kleiner Reichsstände rechts des Rheins entschädigt werden. Erzbistümer, Bistümer und reichsunmittelbare Klöster, aber auch kleinere Reichsstädte sollten an weltliche Reichsfürsten fallen, um deren Verluste auszugleichen.

Zu den kleineren Reichsstädten zählte Rothenburg, das deshalb einem weltlichen Reichsfürsten übergeben werden sollte, anders als Nürnberg oder Frankfurt, die als größere Reichsstädte vorerst erhalten blieben. Nun war Rothenburg fast überall von preußischem Gebiet umgeben, seit 1792 die fränkischen Markgraftümer Ansbach und Bayreuth an Preußen gekommen waren. Deshalb rechnete man in Rothenburg mit einer Übernahme seitens Preußens, das seine fränkischen Besitzungen durch die Mainbistümer Bamberg und Würzburg sowie kleinere Reichsstädte arrondieren wollte. Nach längeren Verhandlungen aber gab Preußen seine fränkischen Ausdehnungspläne auf, um größere Gebiete in Norddeutschland zu erlangen.

Daraufhin wurden die Mainbistümer und die kleineren fränkischen Reichsstädte zunächst dem Prinzen von Nassau-Oranien zugedacht, den eine „Batavische Republik“ von Frankreichs Gnaden aus Holland vertrieben hatte. Doch bei Verhandlungen mit Napoleon in Paris entschieden am 23. und 24. Mai 1802 die Großmächte, dass Franken mit Ausnahme der preußischen Markgraftümer dem Kurfürsten von Pfalz-Bayern zufiel, als Ausgleich für die Rheinpfalz und das niederrheinische Jülich. Bei diesen fränkischen Erwerbungen legte man in München gerade auf Rothenburg großen Wert, denn die preußischen Markgraftümer trennten Bayern geographisch von den Mainbistümern und Rothenburg stellte somit für Bayern eine wichtige Etappenstation nach Würzburg dar. Deshalb wurde Rothenburg bereits am 2. September 1802 durch 221 bayerische Jäger unter einem Major besetzt.

Die Zivilbesitzergreifung trat am 2. Dezember 1802 in Kraft, nachdem am 1. Dezember in Anwesenheit des bayerischen Ministers von Hompesch unter dem Donner von 100 Kanonenschüssen die bayerischen Patente und Wappen an den öffentlichen Gebäuden und den Stadttoren angeschlagen worden waren. Der Rat, die städtischen Beamten und Soldaten wurden feierlich auf den Kurfürsten von Pfalz-Bayern vereidigt. Die Militärstraße über Rothenburg nach Würzburg sicherte Bayern sofort durch Verträge mit Preußen und Hohenlohe. Am 25. Februar 1803 machte dann der Reichsdeputationshauptschluß auf dem Reichstag in Regensburg die Mediatisierung des protestantischen Rothenburg zugunsten des katholischen Hauses Wittelsbach rechtsgültig.

Dass Rothenburg von nun an dauerhaft bayerisch bleiben würde, war zunächst keineswegs sicher. Verwaltungsmäßig hatte man von München aus Rothenburg nämlich der Provinz Würzburg zugeteilt. Als Bayern 1805 Würzburg dem Habsburger Ferdinand von Toskana abtrat, wurde darum erwogen, Rothenburg mit abzutreten. Schließlich behielt man es, weil sich inzwischen der Übergang Ansbachs an Bayern 1806 abzeichnete und Rothenburg eben fast vollständig von ansbachischem Gebiet umgeben war. Der Erwerb von Ansbach ließ in der Folgezeit die Bedeutung Rothenburgs für München allerdings erheblich sinken, denn nun hatte Bayern mit Ansbach eine andere, bequemere Etappenstation in die Mainlande.

Rothenburg stand deshalb zur Disposition, als Bayern auf Betreiben Napoleons 1810 westliche Grenzgebiete an Württemberg abtreten sollte. München und Stuttgart einigten sich schließlich dahingehend, dass Ulm mit dem größeren Teil seines ehemals reichsstädtischen Territoriums württembergisch wurde, Rothenburg dagegen mit dem größeren Teil seiner ehemals reichsstädtischen Landwehr bayerisch blieb. Der Wiener Kongress 1814/15, der unter anderem die Rückgabe von Würzburg an Bayern entschied, schloss die 1802 eingeleiteten Territorialveränderungen ab. Erst seit 1814/15 war damit klar, dass Rothenburg und der größere Teil seiner früheren Landwehr dauerhaft bayerisch blieben.

In die inneren Verhältnisse Rothenburgs griff der bayerische Staat ab 1802/03 nur schrittweise ein. Die Ratsverfassung mit dem Inneren Rat aus 16, dem Äußeren Rat aus 40 Männern und den fünf turnusmäßig sich in der Geschäftsführung abwechselnden Bürgermeistern bestand bis zum 1. Mai 1805 fort. Während der folgenden Jahre konzentrierte sich alles auf die Kriege, in die Napoleon Bayern hineinzog. Auf dem Gebiet der Verwaltung und Gesetzgebung wurde viel experimentiert. Erst nach dem Sturz des leitenden Ministers Montgelas in München entstanden auf der Grundlage der bayerischen Verfassung von 1818 wieder dauerhafte Strukturen mit einer durch Zensuswahlrecht bestimmten neuen Gemeindevertretung. Eine besondere Förderung ließ die Regierung in München den neuerworbenen Gebieten übrigens nicht angedeihen. Anders als bei den fünf neuen Bundesländern 1990 kam damals niemand auf die Idee, die früheren Herren hätten die jetzt an Bayern gekommenen fränkischen und schwäbischen Gebiete heruntergewirtschaftet.

Das Hauptproblem aus Münchener Sicht waren die Staatsschulden, die Bayern übernehmen musste. Für Rothenburg bezifferte man die Staatsschulden auf rund 690000 fl, das Vierfache der durchschnittlich 170000 fl Staatseinkünfte in den letzten Jahren der Reichsstadt. Um die Staatsschulden in den Griff zu bekommen, wurde Personal eingespart. Zweitens wurde Staatsbesitz versteigert, wobei das plötzliche Überangebot die Preise verdarb. Nur ein Beispiel: Das Wildbad ging 1806 für 3460 fl weg, doch als die Kommune es 1820 zurückkaufte, musste sie 6023 fl bezahlen. Zu den historisch wichtigen Gebäuden, die nach dem Verkauf abgebrochen wurden, zählten die Marienkapelle auf dem heutigen Kapellenplatz, die Michaelskapelle bei St. Jakob und die Kirche des Dominikanerinnenklosters.

Ein Drittel der Versteigerungserlöse kam allein aus dem Verkauf der zur ehemals reichsstädtischen Landhege zählenden Äcker, Wiesen und Waldungen. Bis auf geringe Reste wurde die Landhege daraufhin eingeebnet. Die Stadtmauer allerdings mit ihren Türmen blieb erhalten; nur für einige wenige Wälle, Gräben und Zwinger fanden sich Käufer. Betont werden muss, dass die bayerische Verwaltung aus rein fiskalischem Interesse handelte. Bewusste Versuche, die reichsstädtische Vergangenheit auszulöschen, sind nicht zu belegen.

Die tieferen Ursachen und die langfristigen Folgen des Übergangs an Bayern müssen für Rothenburg noch genauer untersucht werden. Zu Rothenburg im 19. Jahrhundert liegt immerhin die Arbeit von Gabriele Moritz vor, laut Untertitel Studien zur politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung einer ehemaligen Reichsstadt am Rande des Königreichs Bayern (1991). Dort geht es um die Entwicklung Rothenburgs nach der Mediatisierung. Wieweit Not und Armut allgemeine Ursachen hatten, die napoleonischen Kriege, die witterungsbedingte Hungerkrise 1817 usw., oder ob der Ausfall des Rates und der Patrizier als Konsumentenschicht und der Verlust des jetzt württembergischen Teils der Landwehr als Absatzmarkt eine Rolle spielten, das sind dennoch offene Fragen. Fast völlig unerforscht sind die letzten Jahrzehnte der Reichsstadt vor der Mediatisierung. Ob Stagnation herrschte und Bayern somit nur ein langes Siechtum endlich beendete, oder ob Aufklärung und Wissenschaft unter den Bürgern ökonomische wie kulturelle Initiativen anstießen und Bayern somit eine hoffnungsvolle Entwicklung abwürgte, das sind Fragen, die wissenschaftlich bisher kaum gestellt, geschweige denn beantwortet wurden.

Ich will nicht unzüchtig Reklame machen, doch in der Linde kann man dazu jetzt einen Beitrag lesen. Wie die Menschen in Rothenburg den Umbruch 1802/03 erlebten, ist schwierig festzustellen, denn amtliche Quellen verraten naturgemäß wenig über Gefühle, Hoffnungen und Enttäuschungen; bis Unzufriedenheit aktenkundig wird, muss sich schon einiges anhäufen. Deshalb wäre es schön, wenn aus privater Hand weitere Aufzeichnungen, Tagebücher oder Briefe beispielsweise, bekannt würden.

Lokalhistorisch ist mithin viel zu tun, um Rothenburg vor und nach der Mediatisierung 1802/03 genauer kennenzulernen. Im übrigen war, wie ich Ihnen in Erinnerung rufen wollte, das Schicksal Rothenburgs zu Beginn des 19. Jahrhunderts eingebettet in deutsche und europäische Großmachtpolitik. Die Territorialveränderungen zwischen 1792 und 1815, die 1802/03 ihren Höhepunkt hatten, betreffen in Mitteleuropa über ein Drittel, ja fast die Hälfte aller Städte und Gemeinden.

Da an vielen Orten jahrhundertealte Verhältnisse umgestoßen wurden, nutzen in den kommenden Monaten viele Kommunen die Vorgänge von 1802/03 zu aufwendiger Selbstdarstellung in Festakten, Kongressen und Ausstellungen. Für Rothenburg planen Herr Dr. Möhring (Reichsstadtmuseum), Herr Schneider (Kriminalmuseum) und ich (Stadtarchiv) eine kleine Ausstellung zum Thema „Rothenburg um 1800: Das Ende der Reichsstadt und ihres Territoriums“. Sie soll Ende des Jahres im Reichsstadtmuseum stattfinden. Falls finanzierbar, könnte man dazu einen Ausstellungskatalog produzieren.

Soviel für heute von meiner Seite zu dem bevorstehenden Jubiläumstermin wegen der Mediatisierung 1802/03.

Prof. Dr. Karl Borchardt