07.05.2003 | 07.05.2003 | Territorium der Reichsstadt Rothenburg

Rothenburg als Wallfahrtsort im Mittelalter

Dr. Ludwig Schnurrer.

 

Vortrag von Dr. Ludwig Schnurrer
am 21. 11. 2003 in der „Glocke“.

Vor einer zahlreichen Zuhörerschaft in der „Glocke“ eröffnete der ehemalige Stadtarchivar Dr. Ludwig Schnurrer die winterliche Vortragsreihe des Vereins Alt-Rothenburg mit dem Thema „Wallfahrten nach und von Rothenburg im Mittelalter“.

Rothenburg war kein besonders bedeutender Wallfahrtsort, dürfte aber gerade deswegen exemplarisch für die gesamte Entwicklung des Wallfahrtswesens gewesen sein. Durch die Lage an dem bedeutenden Nord-Süd-Straßenzug von Skandinavien nach Rom, der sich in unserem Raum ungefähr mit der „Romantischen Straße“ deckt, kamen von jeher viele Rom-Pilger vorbei, die sicher auch in der Stadt Station machten, in den beiden Spitälern übernachteten und verpflegt wurden, bei Krankheit und in Notsituationen Hilfe fanden. Das Spital in Reichardsroth wurde ja um 1182 eigens zu diesem Zweck von Friedrich Barbarossa gegründet und den Johannitern übergeben.

Rothenburg besaß vier Wallfahrtsstätten: Heilig-Blut-Kapelle, Kobolzell, Wolfgangskirche, Kapelle zur Reinen Maria. Die älteste, bedeutendste und lange Zeit einzige Wallfahrtsstätte in der Stadt war eine Kapelle unmittelbar westlich der alten, romanischen Jakobskirche, in der bei der Wandlung vergossene Weintropfen als „Blut Christi“ verehrt wurden. Diese Kapelle wird in den Quellen schon um 1265 erwähnt, in ihr befand sich das heute im Riemenschneider-Altar befindliche Reliquienkreuz mit dem Bergkristall. Erst kurz vorher war das Fronleichnamsfest als Ausdruck einer gestiegenen Hochachtung der Eucharistie „offiziell“ eingeführt worden. Rothenburg lag also durchaus im religiösen „Trend“ der Zeit. Die Kapelle wurde später in das Westwerk der Kirche integriert, 1453/71 entstand dann der wunderschöne Westchor, für den ab 1499 Tilman Riemenschneider seinen Altar schuf. Die Raumwirkung der Kirche wird heute leider durch die klotzige Orgel beeinträchtigt.

Über all die Jahrzehnte hat wohl eine Wallfahrt zur Heilig-Blut-Reliquie in Rothenburg bestanden; ein zollernscher Burggraf, mehrere Äbte von Heilsbronn sind als Pilger bezeugt. Eine überregionale Bedeutung wird die Pilgerattraktion jedoch nicht besessen haben, obwohl man sich an der Kirchweih bzw. Messe (nach Fronleichnam) ein reges geistliches und weltliches Treiben vorstellen kann. Natürlich profitierte die Stadt von einer solchen Wallfahrt auch wirtschaftlich, und vielleicht muss man sich die Bestellung eines so aufwendigen Altars, wie ihn Riemenschneider für St. Jakob schnitzte, auch als Versuch bewerten, mit einer neuen Attraktion die müde gewordene Wallfahrt wieder anzukurbeln.

Denn inzwischen gab es Konkurrenz in der Stadt, die die Pilger von Heilig-Blut weglockte. Innerhalb eines Menschenalters wurden drei neue Wallfahrtskirchen gebaut – sicherlich Ausdruck der religiösen Gärung in den Jahrzehnten unmittelbar vor Luthers Reformation. Es gab damals nicht nur die vehemente Kritik an der Amtskirche, sondern auch einen Anstieg der Volksfrömmigkeit. Entsprechend hoch waren dann auch die Geldeinnahmen der neuen Wallfahrten sowie die Sachspenden, die die frommen Pilger hinterließen.

Ab 1472 baute man an der Marienkirche in Kobolzell, wo heute noch die doppelte Wendeltreppe zur Empore sowie die Nebenportale davon zeugen, wie man den Pilgerstrom kanalisierte und Staus verhinderte. Im Bauernkrieg wurde die Kirche von den Taubermüllern geplündert, es kam zum einzigen Fall von Bilderstürmerei in Rothenburg.

Ab 1475 entstand auf die Initiative eines Privatmannes, des reichen Wollhändlers Michael Otnant, die Wolfgangskirche vor dem Klingentor. Zunächst handelte es sich um einen religiösen Sammelort mit einer hölzernen Kapelle, wo man sich mindestens einmal im Jahr in der „Schäferbruderschaft“ traf und sicherlich auch Geschäfte abschloss. Doch schon bald wurde der heutige Bau errichtet und in die Stadtbefestigung mit einbezogen.

Die dynamischste, erregendste und kürzeste Geschichte der Rothenburger Wallfahrten hat schließlich die Kapelle zur „Reinen Maria“, die auf Betreiben des Klerikers Johannes Teuschlein 1520 in der Synagoge auf dem Judenkirchhof eingerichtet wurde, nachdem durch die antisemitische Hetzerei Teuschleins am Tag der „Reinen Maria“, an Lichtmess 1519 (= 2. Februar, „Purificatio Marie“) die jüdische Bevölkerung die Stadt hatte verlassen müssen. Der ehrgeizige Teuschlein ging nach dem gleichen Muster vor, nach dem kurz zuvor in Regensburg eine ungeheuer erfolgreiche Marienwallfahrt organisiert worden war; die brandaktuelle Druckschrift eines Regensburger Geistlichen, in der dieser über die dortigen Ereignisse berichtete, hat sich mit Randnotizen Teuschleins in Rothenburg erhalten. Man konnte von Wundern lesen, Blinde und Epileptiker wurden geheilt, ein eigenes Mirakelbuch wurde gedruckt. Im ersten Jahr der Wallfahrt wurden in der Kirche 1856 Messen gelesen, das bedeutet im Schnitt mehr als fünf Gottesdienste pro Tag! Der Rat der Stadt, das heißt die herrschende Schicht der Patrizier, stand offenbar den neuen Wallfahrten, besonders der Gnadenstätte zur „Reinen Maria“ skeptisch und abwartend gegenüber. Man fürchtete offensichtlich die Unruhe, die mit ihnen verbunden war, man legte keinen Wert auf Wallfahrtsrummel. Teuschleins Person gab sicherlich Grund zu Befürchtungen. Der glühende Marienverehrer wandte sich bald entschieden der Reformation zu, wurde zu einem der Hauptagitatoren im Bauernkrieg und 1525 auf dem Marktplatz hingerichtet. Eine Straße ist noch heute nach ihm benannt. Mit der Einführung der Reformation war es dann aus mit den Wallfahrten nach Rothenburg.

Die Rothenburger selber werden natürlich genauso Wallfahrten in fremde Gnadenorte durchgeführt haben wie auswärtige Wallfahrer in die Stadt gekommen sind. Die Quellenlage zur Erforschung dieses Phänomens ist jedoch äußerst dürftig. Nur wenn Wallfahrer als Rechtssubjekte in Erscheinung traten, etwa wenn sie ihr Testament machten wegen der Gefährlichkeit der Reise, wenn sie als Totschläger die Wallfahrt als Sühneleistung antreten mussten, dann tauchen sie in den Quellen auf. Vornehmstes Pilgerziel war natürlich Jerusalem, doch ob jemals ein Rothenburger Patrizier die aufwendige und riskante Reise ins Heilige Land angetreten und dann auch abgeschlossen hat, ist unbekannt. Die Betitelung Rothenburgs als „Fränkisches Jerusalem“ (wegen seiner topographischen Lage) ist sicher kein Beweis dafür. Als leichter erreichbares Ziel kam Rom in Frage, und die Stadt de Apostelheiligen Petrus und Paulus wurde gelegentlich von Rothenburgern besucht. Nachweisen lassen sich mehrfach Reisen nach Aachen und zum heiligen Eremiten Jodokus (Jobst) in der Eifel, einmal sogar zu dessen zentraler Verehrungsstätte in der Picardie. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts existierte in Rothenburg sogar eine eigene Jobst-Pflege in der Jakobskirche, die jedoch nicht zur Wallfahrt gedieh. Auch die heilige Anna wurde um 1500 in Rothenburg besonders verehrt. Die Marienkapelle am Kapellenplatz besaß einen Annenaltar von Riemenschneider, es gab dort eine St.-Anna-Bruderschaft.

Ein Heiligenname fehlt allerdings in der Rothenburger Überlieferung so gut wie völlig: der heilige Jakobus. Nichts lässt auf eine übermäßige Verehrung des Apostels schließen, nichts auf eine Jakobus-Wallfahrt nach Rothenburg. Und ebensowenig kann davon ausgegangen werden, dass in nennenswerter Zahl Pilger aus Deutschland, die den langen Weg nach Santiago de Compostela im äußersten Nordwesten Spaniens auf sich nahmen, auf ihrer Reise nach Rothenburg gekommen wären. Es gab keine besonderen Herbergen für sie. Es gab auch keine „Jakobswege“ durch Franken. Solche und ähnliche „Wege“ sind Ausdruck eines ahistorischen Konstrukts, pure Erfindung. Sie fördern das kulturgeschichtliche Interesse und den Tourismus, haben also durchaus ihren Sinn. Im Unterschied zu Frankreich und Spanien allerdings, wo die Jakobswege im Mittelalter eine wichtige Rolle spielten, sind sie in unserem Raum jedoch eine Erscheinung der Gegenwart.

Dr. Richard Schmitt