12.11.2004 | Spätmittelalterliche Normensetzung

Prof.Dr. Karl Borchardt:

Spätmittelalterliche Normensetzung
durch den Rat der Reichsstadt Rothenburg o.d.T.


Vom 12.11.04 – 14.11.04 hielt der Südwestdeutsche Arbeitskreis für Stadtgeschichtsforschung
seine 43. Jahrestagung in Rothenburg ab.


Stadtarchivar Prof. Dr. Karl Borchardt hielt im Reichsstadtmuseum das Eröffnungsreferat über „Städtische Normensetzung“ in der spätmittelalterlichen Reichsstadt Rothenburg und eröffnete damit zugleich die winterliche Vortragsreihe des Vereins Alt-Rothenburg.

Die Zusammenfassung:
Das Besondere an der königlichen Stadt Rothenburg war, dass sich alle Herrschaftsrechte in der Hand des Stadtrates befanden, der damit im Grunde die gleiche Position innehatte wie ein geistlicher oder fürstlicher Landesherr. Hierdurch unterschied sich Rothenburg von den abhängigen Landstädten in der Nachbarschaft. Und von den meisten Reichsstädten hob es sich durch sein großes Landgebiet ab. Der Rat gebot also nicht nur über die rund 5000 Menschen innerhalb der Stadtmauern, sondern er bestimmte auch das Leben der rund 25 000 bäuerlichen Hintersassen in der Landwehr.

Seit dem Niedergang der Stauferherrschaft hatte der Rat die ursprünglich königlichen Amtsträger allmählich abgelöst und schließlich sogar das kaiserliche Landgericht in ihre Hände bekommen. Der königliche Schultheiß wurde durch Bürgermeister aus der Mitte des Rates ersetzt, den Vorsitz im Landgericht führte ein Ratsherr, für das Landgebiet war das Bauerngericht zuständig. Der zwölfköpfige Innere Rat aus den Reihen des „Patriziats“ und der Äußere Rat mit seinen 40 „Genannten“ aus der Schicht der Handwerker ergänzten sich durch gegenseitige Kooptation, so dass – abgesehen von einer Zunftrevolte kurz nach 1450 und insbesondere natürlich der revolutionären Ereignisse des Bauernkriegsjahres 1525 – das Stadtregiment bis zum Ende der Reichsstadt kurz nach 1800 von einem sehr hohen Maß an Kontinuität bestimmt war.

Erste „Normen“ finden sich schon im ältesten Protokollbuch des Stadtgerichts; Ratsbeschlüsse aus dem Jahr 1303 regeln die pünktliche Bezahlung der Steuern für den König und verbieten, Unrat auf die Straße zu werfen. In der Folgezeit kristallisieren sich einzelne Aufgabenbereiche des Stadtrates heraus.

Ursprünglich ging es darum, das Marktgeschehen zu regeln und die Leistungen der Bürger für die Stadt (Befestigung und Verteidigung!) und für den König (Steuern) festzusetzen. Dann kam es zu einer Ausweitung der Kompetenzen, die sich aus dem Erwerb von Gerichtsrechten und der Verwaltung des großen Landgebietes ergaben. Für viele Dörfer etwa wurden „Weistümer“ erstellt, in denen man die Rechtszustände erfasste und festhielt.

Neben dieser äußeren Ausdehnung der Zuständigkeiten des Stadtrates fand jedoch schon im 15. Jahrhundert auch eine sachliche Ausweitung seiner Tätigkeit statt. Man kümmerte sich um Grundstücksverkäufe, Erbangelegenheiten, den Aufwand bei Hochzeiten und Taufen, um Kleidervorschriften, um das Würfelspiel. Schließlich ging man – mit Erfolg – schon in vorreformatorischer Zeit so weit, dass man sich in die geistliche Sphäre einmischte und Regeln für Kollekten, Jahrtage usw. aufstellte und in die Zuständigkeit der geistlichen Gerichte eingriff.

Borchardt warf die Frage auf, ob sich die „Stadtväter“ mit ihren zahlreichen Statuten und Vorschriften wirklich nur um die Aufrechterhaltung der weltlichen Ordnung kümmern und etwa verhindern wollten, dass sich die Bürger durch übertriebenen Aufwand ruinierten und schließlich als Steuerzahler ausfielen.

Diesen modernen, rationalen Interpretationsansatz will Borchardt so nicht stehen lassen, er setzt eine andere, schier provozierende dagegen. Der archivalisch in den vielen, vielen Vorschriften belegte Kampf der Rothenburger Ratsherren gegen luxuria, superbia und andere Todsünden hatte seiner Meinung nach spätestens im 15. Jahrhundert einen anderen, zunehmend an Bedeutung gewinnenden Hintergrund. Ein gotisches Steinrelief im Kaisersaal des Rathauses ist für ihn ein Indiz für eine interessante, vielleicht gewagte These: Dort, wo die Rothenburger Schöffen früher zu Gericht saßen, befindet sich noch heute die Darstellung des Jüngsten Gerichts, das sicherlich auch als eine Art Parallele den Leuten, die die Schranken des Gerichts aufsuchten, dessen hohe Autorität signalisieren sollte.

Zugleich aber, so Borchardt, habe der Rat seine Aufgabe darin verstanden, als von Gott gesetzte Obrigkeit ein gottgefälliges Leben in seinem Herrschaftsbereich durchzusetzen. Der zeitliche Richter habe letztlich die gleiche Funktion wie der ewige gehabt. Ansonsten hätten nach dem Verständnis des späten Mittelalters Krieg, Pest und anderes Unheil als gerechte Strafe gedroht.

Der von der Forschung seit langem beobachtete Übergang von der mittelalterlichen „Herrschaft“ (die hoheitliche Rechte nicht anders behandelte als grundherrliche, eins wie das andere verpfändete, verkaufte wie heutzutage Aktienpakete) zur frühneuzeitlichen „Obrigkeit“, die sich die eigentlich herrschaftlichen, den Kern des „Staates“ ausmachenden Befugnisse unbedingt zu erhalten sucht, hat nach Borchardt frühere Ursprünge als bisher vermutet.

Auch den Bauernkrieg in und um Rothenburg erklärt er maßgeblich damit, dass sich die Bürger ebenso wie das Landvolk damals angesichts der schwankenden Haltung des Stadtrates gegenüber lutherischen Lehre in panische Sorge um ihr Seelenheil gerieten und entsprechend drastisch reagierten. Der Bauernkrieg als (theologisch unterfütterte) Verzweiflungstat!? Eine wohl neue, eine bedenkenswerte These, über die das letzte Wort sicherlich noch gesprochen werden muss.

Mehr als eindeutig war schließlich Borchardts Absage an eine (pseudo)wissenschaftliche Richtung, die die Grundrissplanung mittelalterlicher Städte auf mehr oder weniger geheimnisvolle und dennoch (angeblich) so evidente geometrische Figuren oder mathematisch nachprüfbare Verhältnisse erklärt. Derartiges habe es nie gegeben.

Scharlatanerie, wenngleich von offizieller Seite (unverständlich !) gelegentlich finanziell unterstützt und von einem gläubigen Publikum gierig aufgesogen. Auch Rothenburg hatte sicherlich nicht von Anfang an einen Bebauungsplan, der für Jahrhunderte ausgelegt war. Es wuchs und wurde geplant, die Pläne veränderten sich und die Stadt wuchs weiter, was die Pläne wieder veränderte, es wurde neu geplant usw. – bis heute.

Dr. Richard Schmitt