Jahresbericht 2004/05

Vorgetragen an der Jahreshauptversammlung am 14.06.2005.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

man sollte eigentlich nicht Zeitung lesen. Keine überregionale, keine regionale und schon gar nicht die Lokalzeitung. Man sollte sich auf die Lektüre von Werbeblättchen, Fernsehzeitschriften und Yellow-Press-Erzeugnissen verlegen, dann wäre die Welt nämlich noch in Ordnung für den Leser und er ginge mit weniger Bauchschmerzen zu Bett.

Denn selbst das, was die örtliche Presse hin und wieder mitteilt, genügt, um einem die Schuhe vor lauter Ärger auszuziehen angesichts dessen, was Rothenburg derzeit angetan wird. Amtsgericht, Vermessungsamt und Goethe-Institut wird es hier bald nicht mehr geben. Ersatz ist nicht in Aussicht. Rothenburg hat wieder einmal verloren.

„Gebsattler Schule platzt aus allen Nähten.“ „Aus für ‚Klassenzimmer Natur‘“, zu wenig Sportstunden an fast allen Schulen, keine schulärztlichen Reihenuntersuchungen mehr, übergroße Klassen an den Schulen, aufgeblähte Gruppen in den Kindergärten. Auch das ist in der Presse zu lesen und stimmt nicht gerade froh.

In Deutschland, wird für die Zukunft von Kindern und Jugendlichen viel zu wenig investiert, die öffentliche Hand darbt und spart ausgerechnet bei den Trägern der Zukunft.

Was soll dieses Lamento hier beim Verein Alt-Rothenburg, dem es ja satzungsgemäß um die Pflege der Vergangenheit gehen sollte? Denkmalpflege, seriöse Geschichtsforschung, ein bisschen Heimattümelei, ein kleiner Beitrag zum kulturellen Leben der Stadt durch Vorträge und Publikationen – das bestimmt das Wirken des Vereins seit ehedem. Aber das ist nicht alles, was der Verein leisten möchte. Er will auch Anstöße geben für die Entwicklung Rothenburgs, will mit dafür sorgen, dass der Stadt und ihrer Jugend Perspektiven in die Zukunft hinein eröffnet werden.

Und die Chancen Rothenburgs bestehen nun einmal im besonderen Maße in seinem touristischen Potential. Das wunderschön-romantische obere Taubertal hat uns der Herrgott geschenkt. Die Bewohner der Stadt haben durch all die Jahrhunderte einen eigenständigen, unverwechselbaren Bauwillen bewiesen und ein Ensemble geschaffen, das es zu weltweiter Bekanntheit gebracht hat. Früh einsetzende denkmalpflegerische Bestrebungen und schließlich der bei aller Verklärung einzigartige Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg haben die Stadt als Gesamtkunstwerk in das 21. Jahrhundert hinübergerettet. Rothenburg ist noch immer ein faszinierender Ort, der auch weiterhin Millionen von Gästen anlocken wird.

Der Tourismus ist notwendig für Rothenburg. In der Vergangenheit wurde gelegentlich heftig darüber gestritten, welche Art von Tourismus für die Stadt am verträglichsten sei. Dieser Streit ist inzwischen unnötig geworden; den Massentourismus mit all seinen Begleiterscheinungen hat man, ob man ihn wollte oder nicht. Es geht nun nicht mehr darum, ob man statt des Halbtagesbusbesuchers den eventuell etwas länger verweilenden Gast, den Touristen „mit Niveau“ an die Stadt binden kann, sondern eher darum, wie man zusätzlich zum Tagesausflügler der Stadt alte Freunde erhalten und neue gewinnen kann. Eine Voraussetzung dafür bildet jedoch der ernsthafte und aufgeschlossene Umgang mit der Geschichte und den Baudenkmälern der Stadt.

Gerade angesichts der absehbaren demographischen Entwicklung in Deutschland, der bevorstehenden „Vergreisung“ der Bevölkerung, sehe ich in einem gediegenen Tourismus auch weiterhin eine Chance für die Stadt und ihrer Jugend. Hochglanzbroschüren mit fadenscheinigem Inhalt und marktschreierischem Getue sprechen einen echten Rothenburg-Interessenten wohl nicht an, sondern schrecken ihn eher ab. Dutzendware gibt es woanders genügend.

Daraus folgt: Zum einen darf sich die Selbstdarstellung der Stadt nicht auf die seit Jahrzehnten ausgeschlachteten Glanzlichter beschränken. Es gibt mehr als Heinrich Toppler, Riemenschneider, das Rathaus und die Stadtmauer. Und zum anderen muss das Bild, das man in der Werbung entwirft, gerade im Hinblick auf die Stadtgeschichte ehrlich, selbstkritisch und selbstverständlich auf einem aktuellen Stadt sein.

An einem Beispiel möchte ich Ihnen das erläutern.

Das Geschichtsbewusstsein in Rothenburg ist ja so eine Sache für sich. In der Lokalzeitung konnte man im November etwa über das „Herrnschlösschen“ Folgendes erfahren: „Der turmartige Fachwerkbau ist vermutlich um die Wende des zehnten Jahrhunderts errichtet und gilt als das älteste urkundlich nachweisbare Haus in Rothenburg.“ Kein Kommentar. Ferner wird einem mitgeteilt, dass im Topplerschlösschen Kaiser Wenzel und Heinrich Toppler „verschwiegene Feste“ gefeiert hätten.

Man liest anderswo weitere Kuriositäten zur Geschichte der Stadt. Nusch trinkt noch immer seinen gewaltigen Humpen aus, der Röderbogen gehört ins 12. Jahrhundert, die abseitige Burggasse ist ebenso die älteste Gasse der Stadt wie die Weinstube „Zur Höll“ deren ältestes Haus, die Franziskanerkirche das älteste Gotteshaus, der Schrannenplatz war „ein Friedhof“! Ausrufezeichen! Nein, nicht nur eins, sondern drei. Ausrufezeichen, Ausrufezeichen, Ausrufezeichen. Kein Wort zur jüdischen Geschichte der Stadt, weder zur mittelalterlichen und schon gar nicht zu der des 20. Jahrhunderts. Wozu, fragt man sich, hat die vom Verein seit langen Jahren betriebene und unterstützte historische Aufklärungsarbeit denn nun gedient? Damit sie in Fachkreisen zur Kenntnis genommen wird? Und dort verstaubt? Das kann’s ja wohl nicht gewesen sein. Dass man die „Gerlachschmiede“ als „sehenswertes Fachwerkhaus an der östlichen Stadtmauer“ identifiziert, ist dagegen eher lächerlich, eine harmlose Sünde wider die historische Wahrheit.

Ich ärgere mich mehr und mehr darüber, dass die Ergebnisse der Stadtgeschichtsforschung nicht nach unten durchsickern, nicht städtisches Allgemeingut werden. Der Mensch glaubt offenbar am liebsten das, was er glauben möchte.

Trotzdem darf eine zeitgemäße, anspruchsvolle Touristeninformation nicht unkritisch altehrwürdige Legenden weiterstricken bis in alle Ewigkeit. Sie muss daneben auch andere, weniger spektakuläre oder „unangenehme“ Informationen bieten. Rabbi Meir ben Baruch und die spätmittelalterlichen Judenverfolgungen sollte ebensowenig fehlen wie der Bauernkrieg, die historistischen Eingriffe in das Stadtbild, die Nazizeit oder die Problematik des Denkmalschutzes.

Wir haben seit jeher das Wissen um die Stadtgeschichte beharrlich ergänzt und vermehrt. Es ist schade, dass dieses Erkenntnisse kaum Eingang finden in die massenhaft verbreitete Werbung für Rothenburg. Hier werden Chancen vertan, ein anderes Publikum anzusprechen.

Auch im vergangenen Jahr wollten wir die Diskussion um die Stadtgeschichte und um denkmalpflegerische Gesichtspunkte am Leben erhalten.

Eine Möglichkeit, historisches Wissen breiteren Kreisen zugänglich zu machen, bietet seit Jahren der Tag des „Offenen Denkmals“ im September. Nachdem der Verein im Jahre 2003 seinen Schwerpunkt in der Judengasse gesetzt hatte, wurden 2004 die Wasserversorgungsanlagen in der Bronnenmühle und auf dem Klingentorturm präsentiert – mit überraschend großem Erfolg und guten Besucherzahlen. Die Ausschussmitglieder H.-G. Weltzer, Seiferlein und weitere haben neben anderen durch ihr Engagement zu diesem sehr positiven Ergebnis beigetragen. Dank sei auch Stadtbaumeister Mühleck gesagt, der mit seinem Entgegenkommen und seinem Rat die Aktion erst ermöglicht hat.

Lothar Schmidt, der seit geraumer Zeit durch thematisch orientierte Stadtführungen bisher weniger beachtete Aspekte der städtischen Vergangenheit ins Blickfeld der Öffentlichkeit rückt, – z. B. in Zusammenarbeit mit Pfarrer Gußmann die jüdische Geschichte – hat sich in letzter Zeit intensiv mit dem Siechhaus beschäftigt. Auch dort gibt es Schäden und bei bevorstehenden Sanierungsarbeiten möglicherweise Bedrohungen der Bausubstanz; die Stadt sollte hier die Augen offenhalten.

Beim bevorstehenden Umbau des bisherigen Altenheimes im Spital wird es zu gravierenden Eingriffen im Fensterbereich kommen, ohne die eine Nutzung durch den Betreiber nicht möglich sein wird. Nachdem das Landesamt für Denkmalpflege den Maßnahmen offenbar zustimmen und eine andere Nutzung nicht möglich sein wird, lassen sich die geplanten Veränderungen wohl nicht vermeiden. Dennoch trage ich hier die herzliche Bitte vor, man möge vor allem mit dem prachtvollen Spitalgebäude von Leonhard Weidmann äußerst sorgsam umgehen. Mehrere unserer Ausschussmitglieder haben darauf hingewiesen, um welches Juwel es sich bei diesem Haus handelt. Und in der Tat ist es so. Die Lateinschule und der Renaissancetrakt des Rathauses wurden 1945 größtenteils vernichtet. Das Spital stellt das dritte Monumentalgebäude aus dieser Zeit in Rothenburg dar und es enthält nicht zuletzt in seinem Inneren Originalsubstanz im großen Umfang.

Vielleicht nicht zu Unrecht hat der Stadtheimatpfleger den Verein in einer Ausschussitzung aufgefordert, in denkmalpflegerischen Fragen massiver aufzutreten; früher habe es diesbezüglich mehr Interesse der Bürger und der Vereine gegeben. Insgesamt sei eine zunehmende Verarmung in der Stadt zu beobachten. Er wünsche sich auch mehr Unterstützung durch den Verein.

Wahrscheinlich müssten wir tatsächlich stärker an die Lokalzeitung herantreten, dort Sünden und Verluste der jüngeren Vergangenheit aufzeigen und auf akut gefährdete Bauwerke hinweisen. Beispiele und Problemkreise wären unter anderem: Schlachthof, überhaupt der Gürtel des 19. Jahrhunderts um die Stadt; Brauhaus und Brauhauskeller; so manche Scheune, der LKW-Verkehr etwa in der Judengasse und anderes mehr. Insgesamt wünscht man sich wohl auch in Kreisen des Vereins mehr Öffentlichkeitsarbeit. Wir werden uns bemühen.

Trotzdem muss der Verein nicht zu allem, was in der Stadt geschieht, seinen Senf dazugeben. Es ist nicht seine Aufgabe, etwa eine Ladenaufschrift wie „Crazy butcher“ lächerlich zu machen. So etwas erledigt sich früher oder später von selbst. Auch der bisweilen allzu lichterfrohe Weihnachtsschmuck der Stadt gehört nur am Rande zu unseren Themen, ebensowenig die Ausweitung des Weihnachtsmarkts oder der Glühweinverkauf. Hier geht es oft um Geschmacksfragen, und über die lässt sich wie bekannt trefflich und meist unnütz streiten. Wir nehmen auch nicht Stellung zu Seifenblasen in der Zeitung, die Rothenburg durch ein keltisches Disneyland attraktiver machen möchten, wie von einem jungen Mann aus der „Wirtschaft“ vorgeschlagen wurde. (Der dann allerdings bei leicht getrübtem Geschichtsbewusstsein die Kelten auch auf der Ostseeinsel Gotland siedeln lässt.)

Wir sind – das wurde in den vergangenen Jahren gelegentlich betont – kein Verschönerungsverein. Dennoch hat es mir immer wieder leid getan, wenn Bestrebungen anderer Vereine oder Gruppierungen aus der Geschäftswelt, die sich um eine gefälligere Präsentation der Altstadt – etwa um Blumenschmuck oder Ähnliches – bemühten, ziemlich gönnerhaft kommentiert wurden. Das ist schade, denn im Grunde verdient eigentlich jede Aktivität, jede Initiative, die in der Altstadt etwas verbessern möchte, Anerkennung und Unterstützung. Und zwar nicht nur im Hinblick auf den Tourismus, sondern gerade deshalb, weil es darum geht, die Verbundenheit der Rothenburger mit ihrer Altstadt zu stärken.

Eine Verschönerungsaktion an einem entscheidenden und höchst sensiblen Platz in der Altstadt ist mir und anderen allerdings sauer aufgestoßen. Im Rahmen notwendiger Baumaßnahmen am Plönlein wurde vom Stadtrat eine Anregung umgesetzt, man möge den schönen Renaissancebrunnen, der in der Vergangenheit, ich nehme an: im 19. Jahrhundert, immer tiefer unter das Straßenniveau absackte, wieder besser sichtbar machen. Sie werden das Ergebnis dieser Maßnahmen wohl bald betrachten können. Wie mehrfach in der jüngeren Vergangenheit bin ich der Auffassung, dass der Verein im Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess zu wenig beteiligt wurde. Doch möchte ich heuer nicht noch einmal in diese Kerbe hauen, nicht schon wieder nachkarteln.

Aber ich frage: Wozu braucht der Platz mit dem Brunnen überhaupt eine Neugestaltung? Zugegeben, der jetzige Zustand ist eigenwillig, fast ein bisschen skurril. Aber gerade diese kleinen Unebenheiten des Stadtbildes, solche Unregelmäßigkeiten haben doch vor mehr als einem Jahrhundert die Touristen in größerer Zahl und eine ganze Schar von Malern nach Rothenburg gelockt, ihnen ihr Mittelalterbild bestätigt oder erst erzeugt. Und in ihrer Nachfolge die Postkartenmotive geschaffen, die, obwohl bis heute Millionen von Kameraobjektiven sie befummelten, nichts von ihrem Zauber verloren haben. Warum muss hier geglättet, geschönt werden? Das Geld hätte man lieber in die Erhaltung der historischen Bausubstanz der Stadt stecken sollen, am besten zusätzlich in die Sanierung der großen Brunnenanlagen, die ja nun wirklich zu den Besonderheiten Rothenburgs zählen. Doch muss hier der Gerechtigkeit halber doch angemerkt werden, dass sich die Stadt inzwischen zu einem Brunnenprogramm entschlossen hat, mit dem nach und nach die bestehenden Schäden behoben werden sollen. Sogar über die längst überfällige Abdeckung der Brunnen in der kalten Jahreszeit wird nun ernsthaft nachgedacht. Es scheint fast ein kleines Wunder geschehen zu sein.

Liebe Mitglieder! Wir schreiben jetzt das Jahr 2005 und blicken damit auf 60 Jahre Nachkriegsgeschichte zurück. Eine verantwortungsvolle Politik, ein gütiges Schicksal, der Zufall, was immer es gewesen sein mag – wir blieben vor einem erneuten Krieg verschont. Vielleicht war es auch der da droben, der sich gedacht hat: Sie haben genug gelitten, die Franzosen, die Deutschen, die Polen, die Tschechen, die Russen, lassen wir’s vorläufig genug sein. Die Jugoslawen hat er leider vergessen. Und den Menschen im ehemaligen sowjetischen Machtbereich hat er es auch nicht gerade einfach gemacht. Aber das nur am Rande.

Warum der Herrgott es vor 70 und vor 60 Jahren zugelassen hat, dass die Deutschen in Schmach und Schande und schließlich in bittere Not gerieten, bringt auch heute noch manchen ins Grübeln. Und so erinnern wir uns heuer – zu Recht – , indem wir amtlicherseits Gedenkfeieren abhalten zur Zerstörung Rothenburgs am 31. März 1945, in der Lokalzeitung eine stattliche Zahl von Artikeln darüber lesen können, darunter auch sehr verdienstvolle Befragungen von Zeitzeugen, die den Irrsinn und das Grauen der damaligen Zeit beeindruckend illustrieren und das wieder greifbar machen, was man aus der Sicht des heutigen Wohlstandsbürgers gar nicht denken kann und mag. Wir vom Verein Alt-Rothenburg haben unser Scherflein beigetragen, indem wi
, angeregt von unserem Ausschussmitglied Heckmann, im Herbst 2004 unser Kriegsende-Büchlein von 1995 mit vielen erschütternden Fotoaufnahmen sowie – mit dankenswerter Erlaubnis des Eigentümers – den Aquarellen von Willi Foerster neu aufgelegt und zu unserer Freude bisher recht gut verkauft haben. In der „Linde“ erscheint demnächst eine umfangreiche Darstellung der Kriegsereignisse in der Rothenburger Landwehr im Frühjahr 1945, die manches, was schon bekannt war, im Überblick darstellt, dabei aber auch viel Neues bringt.

Immer noch fehlt jedoch eine zusammenfassende Darstellung, geschweige denn eine historisch-wissenschaftliche, fundierte Bewertung und Einordnung der Vorgeschichte des Jahres 1945. Was war 1919 bis 1945 in Rothenburg los? Die besten und reichhaltigsten Informationen über diese Jahre liefern immer noch die Artikel von Dieter Balb, geschöpft aus den Quellen der Lokalzeitung und dort publiziert. Die Zeitung hat, das sei hier noch einmal lobend angemerkt, in den letzten Monaten eine ganze Reihe von Beiträgen zum Kriegsende in und um Rothenburg gebracht und damit vermutlich so manches Wissen vor dem Vergessen gerettet.

Ich habe in den vergangenen Jahren gelegentlich daran erinnert, dass man die Geschichte des 3. Reiches in Rothenburg intensiver erforschen sollte. Dabei habe ich am Rande erwähnt, man möge über gewisse Straßennamen nachdenken, über Ludwig Siebert, über Teuschlein oder Hindenburg. Ein aufmerksamer Leser meines letzten Berichts hat mir dann zu bedenken gegeben, dass nicht nur Teuschlein ein glühender Antisemit gewesen sei, sondern auch Martin Luther. Er hat auch zu Recht auf das gelegentlich brutale Vorgehen der französischen Armeeführung im 1. Weltkrieg gegen die eigenen Soldaten verwiesen, hat die schwierige Situation Hindenburgs vor der „Machtergreifung“ genannt. Er hat ja nicht einmal Unrecht.

Was Rothenburg und unseren Verein anbelangt, da hat mir unser Vereinsmitglied aber auch so einiges zu denken gegeben. Die führenden Männer des Vereins von damals waren wohl allesamt keine Demokraten, sie dachten autoritär-nationalistisch, sie waren nach 1933 dem neuen Regime willfährig nicht allein aus furchtsamem Opportunismus, sondern auch aufgrund ihrer charakterlichen und ideologischen Disposition.

Wenn etwa im September 1940 der in Nordfrankreich „im Felde stehende“ Rothenburger Bürgermeister und zugleich Vorsitzender des Vereins Alt-Rothenburg Dr. Friedrich Schmidt sein Gußwort zur Vereinsschrift „Rothenburger Wappen und Siegel“ von Martin Weigel derart verlogen-pathetisch formuliert, wie im Folgenden zitiert, weiß man eigentlich schon Bescheid. Bürgermeister Schmidt schrieb damals:

Kraftvoll und soldatisch war die Geschichte der Stadt ob der Tauber stets auf ein Ziel gerichtet, das Reich. Heute ist für Großdeutschlands Freiheit das ganze Volk angetreten. In den Ländern besiegter Feinde, in der Heimat tun wir unsere Pflicht. Der Endkampf bringt uns den Sieg. Aus der Ferne grüße ich „Alt-Rothenburg“. Heil Hitler!

Beim Lesen der Widmung durch den in Frankreich im Kriegseinsatz stehenden Bürgermeisters hält man inne. Das „ganze deutsche Volk“ ist „angetreten“. (Fragezeichen: Viele waren im Exil, viele im Konzentrationslager!)

Zwischen den Zeilen suggeriert Schmidt, die „ruhmreiche“ Vergangenheit der Vaterstadt werde nun in „Großdeutschland“ eine Fortsetzung und ein noch ehrenvolleres Ende finden. Der damalige Bürgermeister mag ja „kraftvoll und soldatisch“ gewesen sein, doch der Geschichte der alte Reichsstadt Rothenburg tut er zuviel der Ehre an, wenn er sie mit solch schwülstigem Vokabular charakterisiert. Bürgermeister Schmidt schwadroniert also, er stellt die Vergangenheit falsch dar, er lügt vielleicht nicht absichtlich, er weiß es womöglich nicht besser. In seiner Heimatstadt ist er allerdings ein mächtiger Mann, der unter den damaligen Umständen über Menschenschicksale bestimmen kann. Das sollte man nicht übersehen.

Allein der „Fall Feige“ aus dem Jahr 1938 ist ein Armutszeugnis für die seinerzeitige Stadtverwaltung und für Bürgermeister Dr. Friedrich Schmidt. Damals hatte der Kantor von St. Jakob, Hans Feige, bei der Volksabstimmung vom 10. April, bei der es um den „Anschluss“ Österreichs ging, mit „Nein“ gestimmt, was seine Tochter unvorsichtigerweise ausplauderte. Bürgermeister Schmidt reagierte daraufhin hart, ja unmenschlich. Der städtische Zuschuss zum Gehalt des Kantors wurde gestrichen, ihm wurde das Betreten aller städtischen Gebäude verboten. Der Mann sollte fertiggemacht werden, man bedrohte ihn in seiner materiellen Existenz. Dr. Friedrich Schmidt beherrschte den Nazi-Jargon perfekt, er schreibt von „jüdisch-freimaurerischer Frechheit“ des Kantors, von „Ehrlosigkeit“. Feige war ganz einfach „ein Lump, ehrloser als ein Zuchthäusler“. Perfide Pseudo-Juristerei ließ die gegen ihn verhängten städtischen Maßnahmen aus „präventivpolizeilichen Gründen“ zur „Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung“ sowie zu seiner eigenen Sicherheit als legal erscheinen. So begründete man damals auch die „Schutzhaft“ und die Einweisung in ein KZ. So handelte Dr. Friedrich Schmidt, Bürgermeister der Stadt Rothenburg ob der Tauber und Vereinsvorstand von Alt-Rothenburg.

Dr. Schmidts Porträt fehlt im Sitzungssaal des Rathauses. Der Verein Alt-Rothenburg hat ihn glücklicherweise auch nicht zum Ehrenmitglied gemacht.

Martin Weigel, Gründungs- und langjähriges Vorstandsmitglied des Vereins, wurde allerdings mit der Ehrenmitgliedschaft ausgezeichnet. Er signierte sein Wappen- und Siegelbüchlein von 1941mit folgenden Angaben zu seiner Person: Ehemaliger Stadtpfarrer in Rothenburg o. Tbr., Inhaber des goldenen Ehrenzeichens und der silbernen Dienstauszeichnung der NSDAP, Ehrenmitglied des Vereins Alt-Rothenburg

Sein uns heute eher kurios anmutender Gruß an die Rothenburger ist von konservativem, rückwärts gerichteten Geist durchweht und letztlich ziemlich versponnen. Den politischen Standort Weigels hätte man, wie bei seinen Alt-Rothenburger Kombattanten, im konservativen, „nationalen“ Lager gesucht. Weit gefehlt! Die Nürnberger Nachrichten vom 1. August 2002 bezeichnen ihn, durchaus mit konkreter Beweisführung des Historikers Peter Zinke, als „Erznazi“. Weigel muss ein überzeugter Nazi gewesen sein. Oder einer, der den Nazis gutgläubig den Weg wie manche seiner Amtsbrüder vorbereitet und geebnet hat. In Rothenburg erlebte Weigel den Aufstieg der nationalsozialistischen Irrlehre nicht mehr. Er ging 1923 nach Nürnberg und hat offensichtlich dort recht aktiv an der Ausbreitung des braunen Sumpfes mitgewirkt. Der Psychopath Julius Streicher lobte 1926 Weigel dafür, dass „er nicht dem Willen der anderen gefolgt ist, sondern sich erst recht als echter Nationalsozialist bekannte“. Weigel war laut Streicher ein strammer Parteigenosse, der auf Hunderten von NSDAP-Veranstaltungen in Mittelfranken auftrat.

Ein Kapitel für sich sind auch Ernst Unbehauens „Meisterwerke“ aus der Nazizeit, die man nicht als Jugendsünden abtun darf. Wo sind eigentlich seine Schandtafeln hingekommen? Sie gehören nämlich genausogut wie Herlin und Riemenschneider, wie Wasse, Philippi, Schacht, ja auch Kandinsky zum künstlerischen Erbe Rothenburgs – bei all ihrer Primitivität und Perfidie. Wenn man Kunst nicht allein als „ewig“ gültige Manifestation des Schönen versteht, sondern ebenso als Ausdruck des jeweiligen Zeitgeistes mit entsprechenden politischen oder ökonomischen Interessen im Hintergrund, dann sind Unbehauens bildnernische Schweinereien zweifelsohne „Kunstwerke“ par excellence. Die Stadt Rothenburg muss sich noch heute dafür schämen. Diese Bilder mitsamt den ihnen beigefügten Sprüchen gehören für immer zur Rothenburger Geschichte.

Zum Glück haben die Rothenburger Stadtväter auch in diesem Fall auf einen Straßennamen verzichtet. Man sollte aber die Geschichte des 3. Reiches im öffentlichen, im städtischen Raum intensiver dokumentieren, als das bisher geschehen ist. Warum keine Hinweise auf die Unbehauenschen Schandtafeln und Abbildungen von ihnen in städtischen Prospekten, warum keine Erwähnung von Hitlerjugendlagern, von „KdF“ und „Arbeitsdienst“, von Rothenburgs Versuchen, im Nazireich zu profitieren, auf der Sonnenseite zu stehen? Wieso erfährt man nichts vom Modernisierungsschub, der ja ohne Zweifel in den Jahren nach 1933 stattfand, und das nicht nur in Gestalt der neuen Sportstätten? Über Brettheim, das ja so weit weg von Rothenburg nun auch nicht liegt? Von der Diskriminierung und Verteibung der wenigen Juden? Von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen?

Liebe Vereinsmitglieder!

Lassen Sie mich zum Abschluss meiner Ausführungen noch kurz auf unsere wissenschaftlichen Vorträge und Veröffentlichungen des letzten Jahres eingehen. Neben dem schon genannten Büchlein zum Kriegsende und zur Zerstörung Rothenburgs haben wir als Jahresgabe die Monographie von Ralf Krüger über den spätgotischen Maler Friedrich Herlin herausgebracht. Vermittelt hat uns diese Arbeit, eine kunsthistorische Dissertation aus Berlin, Dr. Möhring. Er hat noch mehr getan, nämlich die komplette Textvorlage samt dem Bildmaterial in eine gefällige Form gebracht, die gesamten Satz- und Layout-Arbeiten durchgeführt. Um ordentliche Fotos zu bekommen, ist er nach Nördlingen und Bopfingen, ja sogar bis in die Schweiz gefahren. Ihm sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

In der winterlichen Vortragsreihe wurden, in bewährter Manier organisiert von Professor Borchardt, fünf fundierte fachwissenschaftliche Referate gehalten, die ich hier im Wesentlichen nur aufzählen möchte. Genauere Informationen konnten Sie ja der Tagespresse entnehmen. Karl Borchardt machte den Anfang mit seinem Beitrag über „Spätmittelalterliche Normensetzung durch den Rat der Reichsstadt Rothenburg“, in dem der Übergang von mittelalterlicher Herrschaft zu frühmoderner Staatlichkeit charakterisiert wurde. Ludwig Schnurrer stellte mit Daniel Rücker einen Rothenburger Geistlichen vor, den es im Dreißigjährigen Krieg weit aus seiner Heimatstadt hinaus in die Welt verschlug. Ulrich Herz aus Bad Windsheim berichtete über die Geschichte des dortigen evangelische Dekanats im 3. Reich und beleuchtete die schwierige, sicher nicht immer unbedenkliche Rolle der lutherischen Pfarrer. Gerade diesem Vortrag wäre ein größeres Publikum zu wünschen gewesen, fehlen doch auch auf diesem Gebiet für Rothenburg fast jegliche Forschungsergebnisse. Frank Kleinehagenbrock von der Universität Würzburg sprach über Rothenburg und Hohenlohe im Dreißigjährigen Krieg, Prof. Klaus-Peter Schroeder über das Ende der reichsstädtischen Epoche vor 200 Jahren in Südwestdeutschland insbesondere unter rechtshistorischen Gesichtspunkten. Es schadet uns in Rothenburg nicht, wenn wir gelegentlich den Blick über die Grenzen der Landwehr richten.

Nicht vergessen sollten wir den von Hans-Gustaf Weltzer bei der Jahreshauptversammlung 2004 gehaltenen Dia-Vortrag von Hans-Gustaf Weltzer über die Luitpoldschule, ihre architektonische Bedeutung und ihre Ausstrahlung auf das Bauwesen in Rothenburg im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Kein Geringerer als der bedeutende Theodor Fischer hat die damals extrem moderne Schule gebaut. Man sollte das auch in gedruckter Form einem breiteren Publikum mitteilen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Ich bin nun am Ende meines Jahresberichts angelangt. Ich hoffe, ihm zuzuhören war für Sie zumindest gelegentlich informativ und unterhaltsam zugleich. Wenigstens habe ich in den vergangenen zwanzig Minuten niemanden schnarchen hören. (Aber man kann ja auch mit offenen Augen schlafen. Das weiß ich sehr wohl.)

Bei allem Respekt vor Ihnen, meinen Zuhörern: Noch mehr, ob meine Ausführungen bei Ihnen Beifall finden, interessiert mich die Frage, ob unsere Mitglieder in der Stadt und außerhalb meine Ausführungen überhaupt zur Kenntnis nehmen und den gedruckten Jahresbericht lesen werden.

Ganz verpuffen meine wohlgesetzten Worte seit nun fast zwanzig Jahren nicht. Das weiß ich, da mir neben lobenden Kommentaren immer wieder auch ablehnende, gelegentlich giftige, gehässige Reaktionen bis hin zur Drohung mit juristischen Klagemitteln zuteil wurden. Manchmal hat das sogar ein bisschen weh getan.

Alles in allem jedoch habe ich den Eindruck, dass die Jahresberichte nur einen kurzfristigen Aha-Effekt bewirken und letzten Endes ziemlich wirkungslos sind. Ihr „Format“, so nennt man das heutzutage, ist offenbar nur selten geeignet, Aufsehen zu erregen, und schon gar nicht in der Lage, Entscheidungsprozesse zu beeinflussen.

Man wird deswegen nicht den alten Brauch des auf der Jahreshauptversammlung vorgetragenen und anschließend gedruckten Jahresberichts aufgeben. Man sollte sich aber sehr wohl Gedanken machen, wie man die Öffentlichkeitsarbeit im Rahmen unserer Möglichkeiten verstärken kann. Die Präsentation des Vereins im Internet ist sicherlich ein richtiger Weg. Lothar Schmidt, dem ich heute wie manch anderen für sein Engagement danken möchte, betreut die Internet-Homepage des Vereins vorbildlich. Über die Wirkung dieses neuen Mediums sollten wir uns jedoch nicht täuschen. Noch immer, meine ich, kann man z. B. mit den Mitteln der örtlichen Presse weitaus mehr Menschen erreichen.

Überspitzt gesagt: Wir vom Verein Alt-Rothenburg machen nicht wenig, wir sind nicht ausgesprochen faul, wir brauchen, was den Arbeitsaufwand für den Verein betrifft, den Vergleich mit den guten alten Zeiten nicht zu scheuen. Dennoch gebe ich zu: Man hört über lange Zeiten zu wenig von uns. Wir sind eine eher stille Gruppierung in der Stadt. Man fragt uns nicht oft. Vielleicht fragen auch wir zu selten energisch nach. Das Thema „Öffentlichkeitsarbeit“ sollte auf jeden Fall in der zukünftigen Arbeit des Vereins eine größere Rolle spielen.

Dann gelingt es uns möglicherweise auch, wieder mehr neue Mitglieder für den Verein zu werben. Es ist nicht so, dass wir ein stark schrumpfender Verein sind. Dennoch haben wir im letzten Jahr mehr Abgänge als Zugänge zu verzeichnen. Besonders betroffen hat es mich gemacht, dass einige ältere, seit Jahrzehnten dem Verein angehörige „Alt-Rothenburger“ die Mitgliedschaft mit der Begründung aufgegeben haben, ihre knappe Rente zwinge sie zu diesem Schritt. Das hat es meines Wissens bisher kaum gegeben.

Trotzdem sollten wir nicht allzu pessimistisch in die Zukunft blicken. Es gibt eine ganze Reihe von aktiven, engagierten Mitgliedern, die die Ziele des Vereins tatkräftig unterstützen und ihm ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen. Ihnen möchte ich heute ganz besonders danken.

Dr. Richard Schmitt
Schriftführer

15.09.2005